Rezensionen und Informationen zu

Hanheide, Stefan
Mahlers Visionen vom Untergang
Interpretationen der Sechsten Symphonie

Osnabrück 2004, epOs-music, 410 Seiten, zahlreiche Tabellen, Abbildungen, umfangreiches Literaturverzeichnis, Personenregister
ISBN 978-3-923486-60-1 (Buch), 978-3-923486-61-8 (CD-ROM)

Buchumschlag Hanheide, Mahler
Inhalt

I. Zur Problemstellung: Eine Interpretationskonstante bei Erwin Ratz, Hans Ferdinand Redlich und Theodor W. Adorno

II. Prädispositionen in der Biographie: Mahlers Berührungen mit der Politik seiner Zeit

III. Musik und Welt: Zu Mahlers Ästhetik

IV. Die Sphäre von Militär und Untergang im Kunstwerk

V. Interpretationsgeschichte

VI. Rezeptionsgeschichte

VII. Schluß

Anhang

A. Analyse der Rezensionen zu den Aufführungen 1906–1907

B. Analyse der Rezensionen zu den Aufführungen zwischen 1919 und 1933

Literaturverzeichnis

Personenregister


23.03.2005 - (idw) Universität Osnabrück

Führende Gustav Mahler-Forscher meinen bereits seit den späten zwanziger Jahren, in der Sechsten Symphonie des Komponisten und in seinen Soldatenliedern sei die Vorahnung der Katastrophe des Ersten Weltkrieges zu erkennen. Auch weitere politische Tragödien des Jahrhunderts hätte er vorausgeahnt. Eine Studie des Musikwissenschaftlers PD Dr. Stefan Hanheide von der Universität Osnabrück geht dieser Frage nach. Sein Ergebnis: "Die Musik selbst, ihre Entstehungsumstände und die Wirkungsgeschichte der Musik unterstützen diese Sichtweise aufs deutlichste."

Die Studie ist im Osnabrücker Verlag epOs-music erschienen (http://www.epos.uni-osnabrueck.de). Mahler habe immer betont, dass sich in seinen Werken die Weltgeschehnisse widerspiegeln. Der antizipatorischen Qualität seiner Musik stand er positiv gegenüber, erläutert Hanheide. In diesen Werken Mahlers werde die Klangsphäre des Militärs, vor allem der Militärmarsch, tatsächlich in deutlichster Weise negativ dargestellt. Darüber hinaus zeichne der Schluss der Sechsten Symphonie eine düstere Untergangsvision - und zwar ganz im Gegensatz zur Gattungstradition. "Besonders eine Gruppe von Mahler-Interpreten mit zumeist jüdisch-sozialistischem Hintergrund, die mit ihm in Wien in Kontakt stand, propagierte früh diese Untergangs-Interpretation." Breitere Kreise nahmen diese ungewöhnliche Ausrichtung der Symphonie vor dem Ersten Weltkrieg jedoch kaum wahr. Erst nach dem Krieg erkannte man erheblich deutlicher die pessimistische und grauenvolle Untergangsbotschaft dieser Musik. Diesen Rezeptionswandel hat Hanheide mit empirischen Methoden anhand von mehr als 100 Aufführungskritiken zwischen 1906 und 1933 nachgewiesen.

Als Hintergrund liefert die Arbeit erstmalig eine politische Biographie Mahlers. Dabei werden seine Berührungen mit den politischen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit, vor allem mit dem militanten Nationalismus und dem wachsenden Antisemitismus, in den Mittelpunkt gerückt.


Artikel aus der Berliner Morgenpost vom 27. März 2005

Neue Studie: Gustav Mahler war ein Prophet des Ersten Weltkriegs

Schon in den zwanziger Jahren vertraten Forscher die Meinung, daß der Komponist Gustav Mahler (1860-1911) ein Prophet des Ersten Weltkriegs gewesen sei, und eine neue Studie scheint das zu bestätigen. "Die Musik selbst, ihre Entstehungsumstände und die Wirkungsgeschichte der Musik unterstützen diese Sichtweise aufs deutlichste", sagte jetzt der Osnabrücker Musikwissenschaftler Stefan Hanheide, der eine Studie über die These vorlegte. Mahler selbst habe betont, in seiner Musik spiegelten sich die Weltgeschehnisse wider.

Vor allem in der sechsten Symphonie oder den Soldatenliedern sei die Vorahnung der Katastrophe des Krieges zu erkennen - die Klangsphäre des Militärs sei negativ dargestellt. Der Schluß der Symphonie zeichne zudem eine düstere Untergangsvision - im Gegensatz zur Gattungstradition. "Besonders eine Gruppe von Mahler-Interpreten mit zumeist jüdisch-sozialistischem Hintergrund, die mit ihm in Wien in Kontakt stand, propagierte früh diese Untergangs-Interpretation." Vor dem Krieg nahmen die Menschen diese Ausrichtung der Musik jedoch kaum wahr, erst nach dem Krieg sei die Untergangsbotschaft erkannt worden. Den Rezeptionswandel wies Hanheide mit empirischen Methoden anhand von mehr als 100 Aufführungskritiken der Zeit von 1906 bis 1933 nach. dpa

© Berliner Morgenpost 2005



Codex Flores - Onlinemagazin für Musikästhetik und kognitive Musikpsychologie, Dienstag, der 14. Juni 2005

Gustav Mahler: Prophet des Untergangs?
Was mag sich Mahler gedacht haben, als er 1903/1904 seine 6. Sinfonie komponierte? Erhellende Antwort darauf ist in Hinweisen des Meisters nicht zu finden, auch wenn er das Werk anlässlich der Wiener Erstaufführung 1907 mit der wenig griffigen Bezeichnung «Tragische» bedacht hat.

Mahler schrieb im Jahr 1900 in einem Brief an den Rezensenten Max Kalbeck: «Es gibt, von Beethoven angefangen keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat. – Aber keine Musik ist etwas wert, von der man dem Hörer zuerst berichten muß, was darin erlebt ist – respektive was er zu erleben hat. […] Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer.»

Weitere Erschwernis: Mahler hat in seiner viersätzigen a-Moll-Sinfonie keine Texte vertont (wie in den Sinfonien 2, 3, 4, 8 und im «Lied von der Erde»), aus denen sich ideelle Inhalte gewinnen liessen. Nicht erstaunlich, dass die Sechste die am seltensten aufgeführte Mahler-Sinfonie ist. Sogar dem Komponisten persönlich nahestehende Dirigenten wie Bruno Walter und Otto Klemperer haben sich diesem Werk öffentlich nie angenommen.

Der eingangs formulierten Frage hat Stefan Hanheide, Musikwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt «Musik im Zeichen politischer Gewalt», Privatdozent an der Universität Osnabrück, seine Habilitationsschrift gewidmet: «Mahlers Visionen vom Untergang. Interpretationen der Sechsten Symphonie und der Soldatenlieder».

Eine Katastrophen-Musik?

Seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lässt sich, wie Hanheide dokumentiert, eine Interpretationskonstante verfolgen, dahingehend, dass Mahler in seiner Sechsten «als Sprecher für die ,Erniedrigten und Beleidigten‘ dieser Welt den fernen Donner der Zukunft in tönenden Symbolen zu deuten weiß. Von hier aus gesehen prophezeit die VI. Symphonie die Schrecknisse dieses von zwei Weltkriegen zerpflügten Jahrhunderts. […] Das philosophische Rätsel dieser Symphonie ist vom kriegerischen Tatensturm dieses Jahrhunderts selbst gelöst worden, in dessen Erstlingsjahren es entstand.» (Hans Ferdinand Redlich im Vorwort zur Taschenpartiturausgabe des Werks, Verlag Eulenburg, 1968)

In seiner gründlichen und enorm materialreichen Untersuchung breitet Hanheide nicht lediglich eine Werkanalyse und Deutung mutmasslicher Inhalte der a-Moll-Sinfonie aus. Vielmehr wendet er die in den Sozialwissenschaften wie auch in der Psychologie gängige Methode der numerischen Erschliessung des Materials an.

Der Autor stellt sich folgende Fragen: «Wurden weltgeschichtliche Ereignisse mit den Werken in Verbindung gebracht? Wie groß wird die Rolle des Marsches [im Kopfsatz, Scherzo, Finale] bemessen und wie wird er gedeutet? Welches sind die zentralen semantischen Topoi bei der Charakterisierung der Musik? Hat die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Verständnis der Musik derart verändert, daß die Nachkriegs-Hörer diese Erfahrung beim Hören miteinbeziehen?»

Grundlage Rezensionen

Antworten gewinnt Hanheide aus über 120 detailliert ausgewerteten und miteinander verglichenen Aufführungskritiken aus Deutschland und Österreich und aus zwei Zeiträumen: einerseits aus Rezensionen über Wiedergaben der Sechsten vor dem Ersten Weltkrieg (Mahler brachte sie 1906 in Essen zur Uraufführung), andrerseits aus Zeitungs- und Fachzeitschriftenkritiken, die zwischen 1919 und 1933 publiziert wurden. (1933 fiel Mahler, der 1897 zum Katholizismus konvertierte Jude, im Nazireich in Acht und Bann, nach dem Anschluss Österreichs 1938 war er auch dort verfemt. Die Mahler-Renaissance setzte erst in den Sechzigerjahren ein.)

Hanheide begründet seine Wahl des Grundlagenmaterials folgendermassen: «Kritiken bieten den Vorteil, daß sie in der Regel von kompetenten Hörern verfaßt worden sind. Die Gruppe der Rezensenten kann bis zu einem gewissen Grad kompetente musikalische Öffentlichkeit repräsentieren. […] In diesen wortsprachlichen Dokumenten liegen qualifizierte und aussagefähige Beschreibungen von Musik vor. Es handelt sich um eine Textart, deren Funktion klar umrissen ist und deren Autoren von ihrem Berufsfeld her über Sachkompetenz, Sprachmächtigkeit und Urteilsfähigkeit verfügen.» – Viele Feststellungen und Taxierungen beweisen jedoch auch, wie unreflektiert deren Verfasser Kinder ihrer Zeit und eines traditionellen ästhetischen Wertekanons waren. Also wohl glaubwürdige Repräsentanten der Vox populi.

«Die hier eingeschlagene Methode bietet den Vorteil, daß alle erreichbaren Rezeptionsdokumente als gleichrangig angesehen werden und nicht schon subjektiv nach ihrer Bedeutung vorsortiert sind, was ein Manko vieler Rezeptionsuntersuchungen darstellt», hält Hanheide weiter fest.

Weltkriege und Holocaust?

Mahlers Sechste beinhalte eine Untergangsvision, Kampf und Vernichtung, nehme prophetisch die Schrecken der Weltkriege und des Holocaust voraus. Im ersten Teil seines Bandes fächert Hanheide die Aspekte dieser von frühen Mahler-Forschern genährte Interpretationskonstante auf, die sich bis 1906 zurückverfolgen lässt. Eine andere Interpretation sieht in dieser Sinfonie den Untergang eines Individuums. Mahlers Frau Alma, bekanntermassen keine verlässliche Quelle in Sachen Mahler, deutete sie einschränkend als Lebenskampf ihres Mannes mit vorauskomponierten Schicksalsschlägen samt Untergang.

Hanheide bietet (meines Wissens zum ersten Mal in dieser einlässlichen Art) eine aufs Politische fokussierte Untersuchung von Mahlers Biografie, seiner Berührung mit Strömungen wie Nationalismus, Sozialismus, Pazifismus, Judentum, Antisemitismus. Hanheides Fazit: Politisches Interesse im eigentlichen Sinn lasse sich bei Mahler allenfalls akzidentiell feststellen. Ein bewußtes oder intentionales Komponieren politischer Gehalte könne von seiner Biographie her nicht nachgewiesen werden.

Im dritten Teil («Musik und Welt: Zu Mahlers Ästhetik») geht der Autor den Äusserungen Mahlers über sein Komponieren und den Aussagen von Zeitgenossen nach. Bei seiner Untersuchung der Sechsten zieht Hanheide im folgenden Teil die Wunderhorn-Soldatenlieder hinzu («Revelge», «Der Schildwache Nachtlied», «Zu Strassburg auf der Schanz’»). Das Sujet des Soldaten werde bei Mahler ausnahmslos in negativem Licht gezeigt; der Soldat «ist schicksalsbeladen und ausweglos seiner Bestimmung ausgeliefert, in den Tod zu gehen».

Die düstere Militärsphäre finde sich auch in der a-Moll-Sinfonie («In allen Sätzen mit Ausnahme des langsamen Satzes lassen sich über weite Strecken Marschcharaktere ausmachen.»), und Mahler intensiviere das Negativbild, vertreten durch die Idiome der Militärmusik (Marsch, Signal, Fanfare) noch durch Verzerrung, Verdüsterung und Verfälschung.

Mit einem Gang durch die Interpretationsgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte leitet der Verfasser zur breit angelegten Rezeptionsgeschichte über. Das darin nach zwei Zeiträumen (1906/1907 und 1919–1933) mit erheblichem Aufwand detailliert tabellarisch geordnete und nach Kategorien ausgewertete und prozentual aufgeschlüsselte Rezensionsmaterial ist zudem im Anhang auf über 110 Seiten abgedruckt (Werk als Ganzes, formale Aspekte, Instrumentation, ästhetische Aspekte, die einzelnen Sätze, Informationen zur Aufführung).

Wegweisende Untersuchung

Konsequenter in der Nutzung der schriftlichen Beurteilungen als Hans Heinrich Eggebrecht in seiner «Geschichte der Beethoven-Rezeption» (1970/1972) geht Stefan Hanheide ans Werk: Auch er kategorisiert die Dokumente nach Bedeutungsfeldern, allerdings wertet er sie in tabellarischen Darstellungen numerisch aus; die quantifizierten Ergebnisse werden anschliessend verglichen und interpretiert.

Erstaunlich: Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Untergangsvision des Werks praktisch nicht wahrgenommen. Erst nach den Schrecknissen des Kriegs 1914–1918, der den Zusammenbruch der alten Ordnung in Europa zur Folge hatte, trat die pessimistische und brachiale Botschaft in den Vordergrund. In jüngerer Zeit hat diese Interpretationskonstante an Akzeptanz verloren.

Stefan Hanheides Buch über Mahlers a-Moll-Sinfonie ist eine fundierte, psychologisch vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk, seinem Schöpfer und der Rezeption von der Uraufführung bis in die Neunzigerjahre, zudem eine für Forschungsmethoden der historischen Musikwissenschaft ungewohnte Wege beschreitende Arbeit. Der an Dokumentationsmaterial, umsichtiger Deutung und vielseitiger Anregung reiche Band, der inhaltlich weit über das zentrale Sujet hinausgreift, ist als wichtige Bereicherung des Mahler-Schrifttums zu werten.

Nachbemerkung

Sind Künstler-Genies Propheten? Begabt mit übernatürlichen Kräften, mit Eingebungen höherer (oder tieferer) Mächte, Verkünder von Ereignissen, die in der Zukunft liegen? Konkret: Hat Mahler 1903/04 den Ersten Weltkrieg vorausgesehen, den Zweiten, gar die Judenverfolgung, den Holocaust?

Die Überzeugung ist populär: Genies sind dank ihrer aussergewöhnlichen Befähigungen als Musiker, Dichter, Maler in der Lage, in ihren höchsten Schöpfungen Zukünftiges zu antizipieren.

Jeder grosse Künstler reagiert mit seinem Schaffen – auf innere Vorstellungen, Bilder und Zwänge, auf äussere Ereignisse, und er verfügt in hohem Mass über seismografische Sensibilität für aktuelle Situationen und sich ankündigende Umbrüche. Indem das Genie mit Motiven und Chiffren und Verweisen ein Werk für andere erschliessbar macht, öffnet es Zugänge, schafft es Raum für Interpretationen, enthebt es das Werk zeitgebundener Verhaftung und dem damit einhergehenden Alterungsprozess. Zudem: Ein Meisterwerk löst sich von seinem Urheber, ist von ihm selbst nicht in allen Verästelungen und Bedeutungsfeldern aufzuschliessen. (Mahler: «Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer».)

Jedes Meisterwerk ist in sich mehrdeutig, offenbart entsprechend der Zeit, in der es interpretiert wird, und aufgrund der persönlichen Befindlichkeit und des Erfahrungshintergrunds, über welche die sich damit Auseinandersetzenden verfügen, ihm immanente, jedoch erst nach neuen Ereignissen und Aspekten sich entfaltende Inhalte und Wirkungen. Nicht weil die Urheber Weissager waren, sondern weil den Meisterwerken allgemein verbindliche, der Zeit ihres Entstehens enthobene Kraft innewohnt. (ws)
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Stefan Hanheide: Mahlers Visionen vom Untergang. Interpretation der Sechsten Symphonie und der Soldatenlieder. Mit Abbildungen, Literaturverzeichnis, Personenregister. Electronic Publishing Osnabrück, epOs Music, 2004.
408 Seiten. ¤ 32.-. Auch als CD-ROM erhältlich, ¤ 16,50, und online einsehbar.

www.epos.uni-osnabrueck.de