- 57 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Rudolf Weber

Gleichnisse zur Berceuse von
Witold Szalonek: Nachdenken über das
Analysieren von Musik

Es gleicht der leichtfertig geäußerten Feststellung vom ›Sonnenunter-‹ oder ›Sonnenaufgang‹, wenn von dieser oder jener ›Musik an sich‹ die Rede ist. Nach heutiger Erkenntnis wissen wir, die Erde wendet sich aus unterschiedlichen Positionen der Sonne zu, indem sie diese sich selber drehend umkreist. Doch es kann der Anschein entstehen, die Sonne erhebe sich über dem jeweiligen Horizont oder versinke hinter ihm. Wissenschaftliche Erörterungen zum Sonnensystem lassen allerdings diesen Anschein außer Acht und setzen in ihren Gedankengängen selbstverständlich die Existenz des heutzutage bekannten Sonnensystems voraus. In musikwissenschaftlichen Theoriebildungen jedoch wird überwiegend von einem vermeintlich objektivierbaren Gebilde Musik, einer ›Musik an sich‹, ausgegangen, obgleich bekannt ist, dass Musik ausschließlich im Körper menschlicher Individuen zustande kommt. Außerhalb der Individuen können Schallwellen feststellbar sein, die durch Stimmorgane oder Musikinstrumente von Menschen erzeugt werden, oder die, nachdem Schallwellenproduktionen in analogen bzw. digitalen Verfahren aufgezeichnet wurden, durch Wiedergabegeräte ausgestrahlt werden. Die subjektive Existenz von Musik ist die Grundlage ihrer Wirklichkeit. Gleichwohl ist Musik auch Medium menschlicher Kommunikation. Sie ist eine »asemantische Gefühlssprache«, wie der Komponist Witold Szalonek formuliert, und sie ist somit dem Einverständnis des Kodierens und Dekodierens verpflichtet. Im abendländischen Kulturkreis lassen sich grob betrachtet drei Positionen subjektiver Existenz von Musik erkennen: Die des Komponisten bzw. des Musik-Produzierenden, die des Interpreten, der sich zumeist nach den Spielanweisungen des Erfinders der Musik, dem Notentext, richtet und so angeleitet die Erfindung deutet und dadurch Voraussetzungen schafft, damit letztlich der Hörer, der die dritte Position subjektiver Existenz besetzt, in ein kommunikatives Verhältnis zu Komponist und Interpret treten kann. Diese Positionen können miteinander verschmelzen, so daß etwa Komponist und Interpret in Personalunion fungieren und selbstverständlich auch jeweils als Hörer ihrer eigenen Schallerzeugung in den Kommunikationsprozeß einbezogen sind.

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