- 98 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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bereiten, indem Zuhörende sich in einem regellosen, abenteuerlichen Spiel, das absolute Aufmerksamkeit abverlangte, verfangen sahen, so wäre mit den Netzwerkabenteurern im Grunde das Projekt der Avantgarde erfüllt. Doch es zeigt sich ein gravierender Unterschied zum Spiel mit der Musik im Netzwerk. Die Künstler der Avantgarde verfolgten den Gedanken des Voranschreitens. »Sie vertrauten dem Fortschrittscharakter der Geschichte und glaubten daher, das Erscheinen des Neuen mache das Vorhandene, Überlieferte und Ererbte überflüssig und zu Relikten ohne weiteres Existenzrecht« (Bauman 1999: 171f.).

Diese Ansicht ist zurückzuführen auf das Projekt der Aufklärung, das ein aufgeklärtes Zeitalter sich zum Ziel setzte. Die Moderne hat den Fortschrittsgedanken gewissermaßen internalisiert, was in ihren frühen Tagen Leibniz z.B. die Rede vom Menschen und seiner inneren Unruhe pflegen lässt, wobei die Unruhe »in einem beständigen ununterbrochenen Fortschritt zu größeren Gütern« gründet (Leibniz 1971: 188). Das menschliche Geschlecht gelange »mit der Zeit zu einer größeren Vollkommenheit [. . . ] als die, welche wir uns jetzt vorstellen können« (Leibniz 1985: 149). Der je gegenwärtige Blick – so die Vermutung – soll sich in seiner wachsenden Gelehrtheit vernünftiger zeigen, weil er der Vergangenheit mehr entrückt ist und durch den unaufhörlichen Lernprozess, in dem das Menschengeschlecht steht, erwachsener sich zeigt. »[N]icht nur [macht] jeder Mensch in den Wissenschaften von Tag zu Tag Fortschritte, sondern alle Menschen zusammen in dem Maße, wie das Weltall älter wird. Denn was sich in den verschiedenen Altersstufen vollzieht, das geschieht auch in der Geschlechterfolge. Daher muß man die ganze Kette von Menschen, die sich durch so viele Jahrhunderte zieht, als einen Menschen ansehen, der immerfort bleibt und hinzulernt« (Pascal 1962: 58), so formulierte einst Blaise Pascal in seinen Gedanken über die Religion und konstituiert den Universalmenschen. Auch Blaise Pascal spricht vom ununterbrochenen Fortschritt, der nach Hegel späterhin im absoluten Geist sein einzigartiges Ende finden sollte. Hegels im 19. Jahrhundert ausgearbeiteter »absolute Idealismus« beschreibt den Weg zum absoluten Geist und verkörpert ein teleologisches Weltbild. Der Grundgedanke ist, dass einem Absoluten, das das Ganze umfasst, die eigentliche, die einzig wahre Realität innewohnt. Mit den Worten Hegels: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder sich selbst Werden, zu sein« (Hegel 1988: 15). Hegels Lehre verfährt nun, um dieses Ziel zu erreichen, dialektisch, wobei der Blick auf Fichte zuvor lohnt.

Zu erinnern ist dabei also auch an Fichte und an seine »Ich«-Setzung, gründend in der Tat bzw. Handlung, der entgegengesetzt das »Nicht-Ich« steht, was meint, dass »das Setzen des Ich durch sich selbst die reine Tätigkeit derselben« ist (Fichte 1998: 218). »Es ist ursprünglich nichts gesetzt, als das Ich; und dieses nur ist schlechthin gesetzt [. . . ]. Demnach kann nur dem Ich schlechthin entgegengesetzt werden. Aber das dem Ich Entgegengesetzte ist = Nicht-Ich« (ebd.: 226). In der weiteren Ausprägung und Variierung der Ideen Fichtes führt dies zu Schelling, bei dem die äußere Welt einer innerweltlichen Vorstellung entspricht, wobei über die so genannte »intellektuelle Anschauung« (vgl. Schelling 1995: 172–177) den allumfassenden (göttlichen) Wirklichkeitsgrund von »Natur« auf der einen und »Geist«


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